Der stille Rückzug

Nr. 19

Der stille Rückzug – oder ein gefährliche Fehler?

London, 6:47 Uhr. Nebel. Ruhe. Doch mein Cortex brodelt. Ich hatte mir gerade den zweiten Earl Grey eingeschenkt, als ein neues wissenschaftliches Dossier auf meinen Schreibtisch flatterte – ein Fall mit dem Potenzial zum Skandal:„Should we stay or should we go?“ – Die Frage nach dem Therapieabbruch bei stabiler Multipler Sklerose.

Ein harmloser Titel? Mitnichten. Denn hinter dieser scheinbar einfachen Frage lauert – wie so oft – ein hochkomplexes Geflecht aus Daten, Risiken, Immunzellen und fehlenden Prognosemarkern. Ich klappte mein Notizbuch auf. Der Fall war eröffnet.


🧠 Die Szene des Verbrechens: MS-Stabilität – trügerischer Frieden?

 

Zunehmend berichten mir Kolleginnen und Kollegen aus neurologischen Praxen: „Die Patientin ist seit Jahren schubfrei. MRT sauber. Warum weiter therapieren?“Eine gute Frage. Schließlich haben viele MS-Betroffene den verständlichen Wunsch, Medikamente nach Jahren der Stabilität abzusetzen – besonders bei Nebenwirkungen oder zunehmendem Alter. Doch genau hier wird es brenzlig. Denn wie Sherlock Holmes sagt: „Gefahr lauert oft dort, wo du sie am wenigsten erwartest.“


🔍 Die drei Spuren: Studienübersicht

 

Studie

Design & Herkunft

Teilnehmer

Alter (Median)

   

DISCOMS

RCT, USA

259

62/63 Jahre

   

DOT-MS

RCT, Niederlande

189

54/55 Jahre

   

OFSEP

Registerstudie, Frankreich

308

∼58 Jahre

   


🤖 DISCOMS: Die US-amerikanische Spur

  • Ältere Patient:innen, stabile MS über 5 Jahre
  • Vergleich: Verschiedene Therapie fortsetzen vs. Abbruch
  • Nach 2 Jahren: 3x mehr neue Aktivität bei Therapie-Stopp (HR 2.89), aber kein Unterschied in EDSS-Progression

🥵 DOT-MS: Die niederländische Enthüllung

  • Randomisiert, vorzeitig gestoppt nach Zwischenanalyse
  • Nur Plattformtherapien
  • Therapiegruppe: 0 % neue Aktivität; Abbruchgruppe: 17,8 % (2 Schübe, 7 MRT-Läsionen)
  • 10 von 45 mussten Therapie erneut beginnen

⚠️ OFSEP: Die Registerperspektive

  • Ältere MS-Patient:innen (>50 Jahre), mit hocheffektiven Therapien
  • Hazard Ratio für Rückfall nach Absetzen:
    • Gesamt: 4,1
    • Natalizumab: 7,2
    • CD20 (z. B. Ocrelizumab): 1,1 (nicht signifikant)
  • Viele mit SPMS-Anteil, EDSS >4,5


🧪 Das Motiv: Warum wird abgesetzt?

 

Die Gründe für das Absetzen der MS-Therapie sind vielfältig:

  • Alter, Komorbiditäten, Nebenwirkungen
  • Fatigue durch Therapie
  • Angst vor Langzeitschäden oder Infektionen

Doch hier lauert ein fataler Irrtum: Viele Betroffene haben kardiovaskuläre Risikofaktoren (z. B. Hypertonie, Diabetes) – und diese verschlechtern den MS-Verlauf nachweislich. „Manchmal ist der größte Feind nicht der sichtbare Gegner, sondern das, was man für harmlos hält.“


🧙️ Was fehlt? Die Kristallkugel – oder: verlässliche Prädiktoren


Ein zentraler Punkt meines Falls: Wir haben kaum verlässliche Marker, um vorherzusagen, wer sicher absetzen kann – und wer nicht. Was wünschten wir uns ?

  • Biomarker (z. B. Neurofilament light chain)
  • Bessere MRT-Algorithmen
  • Individuelle Risikoprofile
  • Kognitive und funktionelle Verlaufsdaten

Bis dahin heißt es: Im Zweifel für die Vorsicht.


🧔️ Das Alter schützt nicht vor MS

 

Viele glauben, dass ab einem gewissen Alter „…eh nichts mehr passiert“. Aber Achtung:

  • Primär progrediente Verläufe beginnen oft um das 50. Lebensjahr
  • Schleichende Progression kann auch ohne Schübe MRT-Aktivität auftreten
  • Und: Das Immunsystem altert – aber nicht planbar

„Alte Fälle sind oft die gefährlichsten – sie tarnen sich als gelöst.“


⚖️ Mein Fazit als Sherlock MS

 

Der Therapieabbruch bei MS ist kein Spaziergang, sondern ein hochkomplexes Risiko-Manöver. Was wie Ruhe aussieht, kann stille Progression sein.

👉 Ohne verlässliche Prädiktoren ist das Absetzen derzeit nur in ausgewählten Einzelfällen verantwortbar.
👉 Der Weg dorthin sollte multidisziplinär, individuell und überwacht (MRT, Biomarker) erfolgen.
👉 Und: Patienten sollten ehrlich, aktiv und informiert eingebunden werden.


Unser Fall ist nicht geschlossen.


Wir brauchen mehr Daten, bessere Werkzeuge – und den Mut, weiter kritisch zu beobachten. „Ein guter Detektiv hört nie auf zu fragen – besonders dann nicht, wenn alle anderen glauben, die Antwort bereits zu kennen.“

- Sherlock MS