Der Fall der zwei MS-Gangs

Nr. 37

Der Fall der zwei MS-Gangs

Es war eine dieser typisch Londoner Nächte: Nebel über der Themse, Blaulicht irgendwo im Osten, und vor meinem Fenster ein Doppeldeckerbus, der seit zehn Minuten exakt nicht von der Stelle kommt. In diesem Setting landete ein besonders spannender Fall auf meinem Schreibtisch:

Mehr als 600 MS-Patienten, alle mit der gleichen Diagnose – und doch völlig unterschiedlicher Verlauf. Manche sammeln neue Läsionen, als wären es Strafzettel, andere verlieren still und leise Gehirnvolumen. Klassische Schubladen wie „schubförmig“ und „progredient“ helfen da nur bedingt.


Also die Frage, die mich als SherlockMS natürlich sofort reizte: Gibt es verborgene MS-Typen, die wir übersehen – und verraten uns MRT und Blutwerte, zu welcher „Gang“ ein Patient gehört? 🧠🔍

Genau das wurde in einem neuen Artikel in Brain untersucht, in dem MRT-Daten und ein Blutmarker, das Neurofilament light (sNfL), mit einem lernenden Algorithmus kombiniert wurden.


🔬 Tatortmaterial: MRT-Bilder und eine Blutspur


Die Ermittlungsakte ist imposant:

  • hochaufgelöste MRT-Scans mit Hirnvolumina, Läsionslast, feinen T1/T2-Veränderungen
  • dazu sNfL-Werte im Blut, die anzeigen, wie viel Nervenfaser-Schaden gerade im System steckt
  • und ein Algorithmus namens SuStaIn, eine Art digitale Profiler-Maschine, die ohne Vorgaben Muster in Daten erkennt

Statt Patienten nach Etiketten wie „RRMS“ oder „SPMS“ zu sortieren, wurde das Programm mit dem Rohmaterial gefüttert: Strukturen wie limbischer Kortex, tiefe graue Substanz, Parietallappen, Corpus callosum, plus sNfL.

Nach mehreren Runden Rechnen, Kreuzvalidieren und statistischem Zähneknirschen stand fest: Im Untergrund der MS tummeln sich zwei klar unterscheidbare Banden.


Ich taufte sie – natürlich –

frühe-sNfL-Gang 😈

späte-sNfL-Gang 🐍


😈 Die frühe-sNfL-Gang – laut, aggressiv, leicht nervös


Die erste Gruppe fällt auf wie eine Schlägertruppe in der Seitenstraße:


Schon früh im Verlauf sind die sNfL-Werte im Blut hoch – die Blutspur ist also sofort da. Im Corpus callosum (der dicken Verbindungsbahn zwischen den Hirnhälften) sieht man früh mikroskopische Schäden, erkennbar an veränderten T1/T2-Signalen. Gleichzeitig sammeln sich neue Läsionen schneller an.


Diese Patienten sind im Mittel jünger und zeigen ein Bild, das eindeutig nach aktiver Entzündung und paralleler Neurodegeneration aussieht: Feuer im System, und zwar nicht zu knapp.

Das Modell sagt voraus, dass diese frühe-sNfL-Gang ein deutlich höheres Risiko für neue Kontrastmittel-Läsionen hat – grob gesprochen mehr als doppelt so hoch wie die andere Gruppe. Das Gehirnvolumen schrumpft im Schnitt schneller. Aber: Unter Therapie gehen sowohl sNfL-Werte als auch aktive Läsionen besonders deutlich zurück.

Mit anderen Worten: Diese Gang macht früh massiv Ärger, ist aber auch besonders empfänglich für konsequente Behandlung.


🐍 Die späte-sNfL-Gang – leise, heimlich, unterschätzt


Die zweite Gruppe arbeitet subtiler, eher wie ein Geldwäsche-Ring im Hintergrund:

  • Zu Beginn sind die sNfL-Werte noch unauffällig – im Blut wirkt alles erstaunlich ruhig.
  • Dafür findet man früh Volumenverlust in bestimmten Hirnregionen, vor allem limbischer Kortex und tiefe graue Substanz. Das Gehirn wird leiser dünner, ohne dass der Blutmarker Alarm schlägt.
  • Erst später steigen dann auch hier die sNfL-Werte an.

Diese Patienten sind im Schnitt älter, haben zu Beginn weniger offensichtliche Entzündung, dafür aber eine eher schleichende, strukturelle Schädigung.


Das Risiko für neue Läsionen ist geringer als in der frühen-Gang, das Tempo des Volumenverlusts etwas langsamer. Therapie wirkt auch hier – aber die Dynamik ist eine andere. Es ist eher ein langsamer, zäher Fall als ein spektakulärer Bankraub.


📊 Der Algorithmus schlägt die klassische Brille


Interessant für einen Detektiv, der gerne mit Zahlen spielt:

Das Modell, das MRT plus sNfL nutzt, beschreibt Krankheitsschwere (gemessen mit EDSS) deutlich besser als ein älteres Modell, das nur MR-Daten berücksichtigt.

Vereinfacht:

  • Nur-MRT-Brille = verschwommenes Schwarz-Weiß-Foto
  • MRT + sNfL = hochauflösendes Farbbild mit eingeblendeter Schadensbilanz
  • Außerdem sagt das kombinierte Modell besser voraus, wer bald neue Läsionen entwickelt, und bei wem die Gehirnatrophie schneller voranschreitet.


Es ordnet jedem Patienten nicht nur eine Gang zu, sondern auch ein Stadium entlang einer Art Krankheitszeitleiste. Das ist, als würde man nicht nur wissen, zu welchem Syndikat jemand gehört, sondern auch, wie weit die Karriere in dieser Organisation bereits fortgeschritten ist.


💡 Was heißt das für MS im Alltag?


Bevor jemand nervös wird: Nein, ab morgen wird nicht jede MS-Sprechstunde in „frühe-sNfL-Gang, zweite Etage links“ und „späte-sNfL-Gang, bitte dem grauen Teppich folgen“ aufgeteilt.


Aber der Fall zeigt sehr klar:

  • Klassische Schubladen wie „schubförmig“ und „progredient“ sind zu grob, um die wahre Biologie abzubilden.
  • Die Kombination aus MRT-Mustern und sNfL im Blut kann verborgene MS-Typen aufdecken,
  • die sich in Entzündungsaktivität, Gehirnschrumpfen und Therapieansprechen unterscheiden.
  • Besonders spannend ist die frühe-sNfL-Gang: viel Aktivität, hohes Risiko, aber auch besonders guter Effekt von Behandlung. Genau die Gruppe, bei der man früh und entschlossen handeln möchte.

Langfristig könnte so ein Ansatz helfen, Therapien gezielter zu wählen, Studien besser zu stratifizieren, und Patienten realistischer zu beraten, was Tempo und Art ihres Krankheitsverlaufs angeht.


🧠 Schlusswort aus der Baker Street


Ich sitze also in meiner Londoner Wohnung, draußen hupt ein Taxi, und irgendwo flucht ein Busfahrer wegen einer falsch geparkten Lieferwagenflotte.

Während die Stadt unten mit ihren sichtbaren Staus kämpft, haben wir im Gehirn angefangen, die unsichtbaren Staus zwischen Entzündung, Nervenfaser-Schaden und Strukturverlust in zwei große Muster zu zerlegen.

Für mich ist klar:
Die Multiple Sklerose ist kein einziger Täter, sondern mindestens zwei gut organisierte Gangs – laut und früh gegen leise und spät –, die wir endlich besser identifizieren können.

Und je genauer wir wissen, wer da im Nervensystem sein Unwesen treibt und an welchem Punkt der Karriereleiter dieser Gang sich ein Patient befindet, desto eher können wir die passende „Einsatztruppe“ losschicken.

Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Aber dank dieser Arbeit haben wir den Tatort wesentlich besser kartiert – und das verschiebt die Chancen ein ganzes Stück in Richtung der Patienten.


Yours truly, Sherlock MS

Referenz