Nr. 25
Das Rätsel der Ränder – Ein Fall mit Tiefe🕵️
Es war ein nebelverhangener Abend in der Baker Street. Holmes balancierte müde eine Teetasse auf seinem Knie, während ich mir ein neues Dossier aus dem internationalen Archiv auf den Schreibtisch zog. Der Absender: Nature Medicine. Der Titel: Pathologisch validierte röntgenologische Breitrandläsionen identifizieren Multiple-Sklerose-Patienten mit einem Risiko für eine schnelle Behinderung.
„Ein wenig dramatisch, meinst du nicht?“, murmelte Holmes spöttisch.
Ich aber ahnte: Hier war etwas im Busch. Ich richtete mich auf. „Holmes, das hier ist kein gewöhnlicher Fall. Es geht um Ränder. Breite Ränder.“ „Ränder, mein lieber Freund, sind oft dort, wo das Wesentliche beginnt.“
📁 Das Dossier: Nature Medicine, 2025
Ich begann zu lesen. Eine Gruppe forensisch präziser Neurowissenschaftler hatte Autopsieproben analysiert – Gehirngewebe von MS-Patient:innen mit besonders aggressivem Verlauf. Der Befund: sogenannte Läsionen mit breitem Rand, kurz BRLs – Läsionen mit einem auffallend breiten entzündlichen Rand.
Nicht einfach ein entzündlicher Saum, wie man ihn kennt – sondern eine Art Burgmauer aus aktivierten Makrophagen, Mikroglia und molekularem Tumult. Fast 1,7 Millimeter dick war dieser Rand, besetzt mit Immunzellen, die ein hochreguliertes Arsenal an Botenstoffen, Stressantworten und apoptotischen Markern mit sich führten. Ich stutzte. Das war kein Schaukampf. Das war ein organisierter Feldzug.
Holmes blickte auf. „Und, was sagen die Pathologen?“
„Dass diese Ränder einen eigenen Charakter haben – unabhängig von den Läsionszentren.“
🔬 Die Bildgebung: PET und das unsichtbare Feuer
Doch das war nicht alles. Ich las weiter – das Dossier war akribisch dokumentiert. Die Autoren hatten nicht nur mikroskopisch seziert, sondern auch modernste Bildgebung eingesetzt: TSPO-PET.
Was das bedeutet? Ganz einfach: Wenn klassische MRTs der Polizeifotograf sind, dann ist TSPO-PET der Wärmesensor für aktive Tatorte. Dieser spezielle PET-Scan sucht nach einem Molekül namens TSPO – ein Marker, der immer dann aufleuchtet, wenn Mikroglia, die Wächterzellen des Gehirns, in Alarmbereitschaft sind.
Mit dieser Technik konnte man sogenannte radiologisch auffällige Randsaumläsionen (rBRLs) identifizieren – in etwa einem Drittel der Menschen mit MS. Und das war kein Zufall:
Je mehr rBRLs, desto schneller die Progression.
Je dicker der Rand, desto schlechter die Remyelinisierung.
Ich notierte: „Der Schaden kommt nicht aus dem Zentrum – sondern vom Rand.“
Wie Holmes einst sagte: „Spuren sind oft dort am tiefsten, wo niemand hinschaut.“
🧠 Eine neue Klasse von Läsionen
Doch die Dossier-Autoren blieben nicht bei der Bildgebung stehen – sie gingen tiefer. Was sie fanden, war beunruhigend: Diese Randzonenläsionen (BRLs) waren nicht nur größer als klassische MS-Herde – sie lagen auch besonders ungünstig. Häufig im Hirnstamm, im Rückenmark oder in sogenannten infratentoriellen Regionen – also dort, wo zentrale Steuerungsfunktionen wie Atmung, Gleichgewicht oder Feinmotorik organisiert sind.
Ein Treffer an diesen Stellen? Das ist wie ein Sabotageakt an der Steuerzentrale eines Zuges – kleinflächig, aber mit fataler Wirkung.
Dann der nächste Schock: Die Immunlandschaft innerhalb dieser Läsionen war regelrecht „aufgebracht“. Man fand ungewöhnlich viele Immunzellen mit hoher Aktivität – darunter:
- iNOS – ein Marker für aggressiv reagierende Zellen, die mit Stickstoffradikalen arbeiten (nicht unbedingt zimperlich)
- CD68 und HLA-DR – typisch für „aufmunitionierte“ Fresszellen
- CD163 – eigentlich ein Zeichen für Beruhigung, aber hier offenbar wirkungslos
Kurz gesagt: Die Immunzellen liefen heiß – aber ohne klare Ordnung. Als ob man Feuerwehrleute und Pyromanen zugleich in denselben Raum gesperrt hätte.
Und nun der vielleicht erschütterndste Befund: Diese Läsionen blieben unter dem Radar gängiger MS-Therapien.
Immunmodulatoren – also Medikamente, die das Immunsystem beruhigen oder umlenken sollen – funktionierten hier oft nicht wie erwartet. Während sie in anderen Hirnbereichen Wirkung zeigten, ließen sich die Randsaumläsionen kaum beeindrucken. Sie verharrten in einem „aktiven Schwebezustand“, wie ein Krimineller, der polizeibekannt ist – aber nie verhaftet wird.
Holmes murmelte trocken: „Wenn ein Täter unter Aufsicht unbehelligt bleibt, hat er entweder einen guten Anwalt – oder einen ausgezeichneten Tarnmantel.“
Und ich, Sherlock MS, ergänzte in mein Notizbuch: „Wir brauchen neue Wege, die Täter am Rand zu enttarnen. Und bessere Werkzeuge, um sie festzusetzen.“
🧩 Der Schlussbericht
Ich lehnte mich zurück. Der Tee war längst kalt. Die Dossierlage war eindeutig:
- BRLs sind eine bisher unterschätzte Subklasse von Läsionen mit hoher prognostischer Relevanz.
- Sie lassen sich radiologisch identifizieren – und korrelieren eng mit klinischem Abstiegstempo.
- Ihre pathologische Aktivität ist hoch – und therapeutisch schwer zu fassen.
- Ihr Vorkommen ist kein Zufall, sondern ein mögliches Ziel für personalisierte Strategien.
Holmes zündete sich seine Pfeife an. „Und was schlagen Sie vor, Inspector?“
Ich lächelte. „Ein gezieltes Screening auf rBRLs per TSPO-PET bei Hochrisikopatienten. Und Forschungsinitiativen, die sich diesen Rändern widmen – nicht nur den Zentren. Vielleicht ist genau dort die Achillesferse.“
🔎 Fazit von Sherlock MS
„Ränder sind kein Randthema. Sie sind der Schlüssel zum Zentrum.“
In der Welt der MS sollten wir lernen, dorthin zu blicken, wo die Unruhe wächst – nicht wo sie schon explodiert ist. BRLs sind mehr als Läsionen. Sie sind biologische Frühwarnsysteme. Wer sie ignoriert, verpasst die Chance auf echte Präzisionstherapie. Der Fall bleibt offen – aber das nächste Kapitel ist eingeläutet.
Hochachtungsvoll,
Ihr Sherlock MS
Neurodetektiv & Grenzbeobachter